ZIRKUS DER EINSAMKEIT - Mein Tagebuch vom GR 20
Vier Tage bleiben mir noch in Marseille, die letzten vier der 383 Tage meiner Wohnhaftigkeit in dieser dreckigen und grandiosen, unsicheren und vogelfreien Stadt. Zeit, mich noch ein letztes Mal an der Stelle zu Wort zu melden, die einmal als lückenlose Dokumentation meines Treibens hier gedacht war. Da das letzte Zeitfenster meiner virtuellen Abwesenheit zu groß war, als dass ich mich aller Ereignisse entsinnen, geschweige denn sie angemessen aufschreiben könnte, beschränke ich mich auf eines, das letzte und sicherlich eines der schönsten. Vom 9. bis zum 19. August verwirklichte ich auf Korsika die vage Idee, die sich schon in obigem Blogeintrag findet, nämlich den GR 20 zu begehen und so auf diesem Fernwanderweg das korsische Gebirge einmal der Länge nach zu überschreiten. Mein Weg führte mich in acht Tagesetappen von Vizzavona in der geographischen Mitte Korsikas nach Calenzana nahe der Nordküste. Da ich - siehe unten - schon genügend bepackt war, habe ich mir die Mühe erspart, eine Kamera mitzunehmen. Wer daran interessiert ist, findet aber hier und bestimmt auf ganz vielen anderen Seiten schönere Fotos als ich je hätte schießen können mitsamt einer Detailbeschreibung des Wegs. Was meine persönlichen Erinnerungen angeht, voilà:
Tag 0
Noch kein Wandertag, und hielt mich doch ganz schön auf Trab. Da ich in Sachen Reiseplanung Tendenz habe, immer spontaner, kreativer und kurzfristiger - kurz: unvorbereiteter - zu werden, war ich 12 Stunden vor Aufbruch noch nicht mit so brauchbaren Dingen wie etwa Wanderschuhen oder auch einem Zelt ausgerüstet. Also los, von GO-Sport (pfui!) zu Décathlon (hui!), en passant par l’Alcazar, auf le vélo Katjas Rucksack ein letztes Mal rollend auf dem Rücken.
Schwere Entscheidungen nötigte mir dann am Nachmittag die Nahrungsplanung bei DIA ab. Viel kaufen, viel tragen und sich dafür nicht in den Refuges neppen lassen oder doch von einigen Einkäufen absehen und etwas mehr Geld einstecken? Armer zerlumpter Freiwilliger, der ich bin, wollte ich den Urlaub eigentlich so billig wie irgend möglich halten und hoffte so, auf etwa 18 kg Rucksackgewicht zusteuern zu können. Das ist das empfohlene Maximum für Männer, müsste also genügend Vorräte erlauben und trotzdem tragbar sein, soweit meine Überlegung. Als ich jedoch, bereits Schlimmes ahnend, vor Neugierde dann kurz vorm überhasteten Abschied von Sári noch bepackt auf die Waage sprang, blieb die Nadel erst bei runden 100 Kilogramm stehen! Nettowiegen ergab 74, ich trug also im Moment geschlagene 26 kg mit mir rum! Kein Wunder, denn ich hatte doch in vielerlei Hinsicht letzten Endes die Maximallösung gewählt und schleppte nicht nur Schlafsack, Zelt und Trainingshose aufm Buckel, sondern auch je 2 kg Brot und Reis, 1 kg Nudeln, 2 Boxen vorgekochten Linseneintopf, Marmelade, Salz etc....und nicht zu vergessen 3 Liter Wasser! Welchen Preis die Komplettautonomie hat, konnte ich schon auf dem Weg zu St Charles erahnen, und im Zug nach Toulon taucht beim Gedanken an die 1000 Höhenmeter bergauf, die morgen anstehen, eine muntere Schar Fragezeichen in meinem Kopf auf. Das gestehe ich aber im Moment höchstens mir selbst ein. Wer die Herausforderung sucht, muss sie auch aushalten können; ich freue mich indes nicht minder darauf, der zivilisierten Welt und ihren sozialen Spinnennetzen mal für zehn Tage den Allerwertesten zuzukehren und nicht nur über Berge, sondern auch ein bisschen in mich zu gehen. Momente einsamer Konzentration und Kontemplation genießen, die eigene Zeit an nichts und niemanden abtreten, ja, das fehlte...braucht jetzt nur kein Unwetter zu kommen!
Tag 1
Die Abendsonne, die im Refuge L’Onda, der ersten Schutzhütte, in der ich untergekommen bin, auf die umgebenden Felswände fällt, vergoldet im Nachhinein auch meinen ersten GR-20-Tag. Dann aber erinnern mich Fußsohlen und Schultern daran, dass doch nicht alles geschenkt war heute, eher im Gegenteil. Ach ja, überhaupt: diese verfluchte Diskrepanz zwischen Ankündigung und Ausführung. Beispiele? Ich lerne ganz fleißig Russisch, kaufe mir gleich mal ein Buch, das kann ich dann durcharbeiten. Pustekuchen, 50 Vokabeln bis jetzt. Ich verbessere dolle meine Gitarrenskills anhand dieser Jazzschule. Sieht nicht ganz einfach aus, aber ich hab ja Zeit. Nicht erst seit ihrem Abhandenkommen habe ich die Instrumente kaum noch angefasst. Und jetzt also: Ich lauf dann mal den GR 20, den schwierigsten Fernwanderweg Europas, und tu mir dazu noch 25 kg Gepäck auf, bin ja n sportlicher Typ. Klappt schon irgendwie. Eine wie immer lobenswerte Grundhaltung eigentlich, nur diesmal zieht der Ticketkauf auch die Umsetzung, und zwar die komplette, der großspurigen Ankündigung an mich selbst unvermeidlich nach sich. Diese Konsequenz der Geschehnisse war es, die mir im Zug nach Toulon, in der Fähre nach Ajaccio und im Bus hoch nach Vizzavona ein ständig wachsendes flaues Gefühl im Magen gab. Als der Busfahrer dann früher als erwartet anhielt und brüsk “Vizzavona, GR 20!” rief, klang es, als würde ein wenig gnädiger Richter meine Gefängnisstrafe verlesen.
Neben den beschwingt einherschreitenden, stockschwingenden Wanderern, die mir bald entgegenkamen, fühlte ich mich wie ein dummer, belächelnswerter Grünschnabel (was ich im Prinzip auch ganz genau bin), als ich mit meinem halben Zentner auf dem Rücken lostaumelte, mich gleich zu Beginn auf allerlei verkehrte Wege begab, alles auf der Suche nach Wasser, das ich nicht clever genug war, rechtzeitig aufzufüllen. Je länger, je heißer sich der Anstieg zog, begann ich im Rhythmus meiner keuchenden 15-Minuten-Pausen angstvoll über ein mögliches Scheitern nachzudenken. Hatte ich, der ich eigentlich an Gelingen von Geplantem gewöhnt bin, mich dieses Mal schlichtweg überhoben?
Der größte Anstieg der gesamten Tour gleich am ersten Tag: Wer sollte da nicht an sich zweifeln oder gar verzweifeln? Aber siehe da: Das Bergauf-Hamsterrad, auf dem ich mich gefangen fühlte, hatte ein Ende, als ich es noch nicht zu hoffen wagte, der stechende Schmerz im Knie verging, wie er gekommen war, und von oben von der Punta Muratello ließ sich das Refuge schon ausmachen. Habe ich also mich und meinen momentan größten Feind, den Rucksack, ins Ziel gebracht. Eins ist klar: Das hier bleibt nicht bei einer nachdenklichen Selbstfindungstour, das wird in allererster Linie eine sportliche Herausforderung, bei der ich jeden Tag um die bloße Ankunft zu kämpfen haben werde. Wenn ich hier allerdings angetreten bin, um meinen wahren Limits ins Auge zu sehen, auch das hat mir der Tag gezeigt, dann müssen die verdammt hoch liegen und ich bin neugierig, sie kennen zu lernen.
Ein Neuntel habe ich schon. Ein Neuntel habe ich erst, aber das mit dem schlimmsten Anstieg. Der Rucksack wird nur noch leichter...
Tag 2
Jetzt schaff ich’s! Der heutige Tag konnte mir auf einem leichteren Wegstück die ersehnte Konsolidierung verschaffen und die Zuversicht, nun auch alle anderen Etappen bestehen zu können. Es ist unglaublich, an sich selbst zu merken, wie sich nach nur einem Tag “Training unter Wettkampfbedingungen” der Rucksack deutlich leichter trägt - und so viel habe ich nun wieder nicht weggefuttert...
Ich stand also entgegen vagen besseren Vorsätzen erst etwas nach 7 fröstelnd auf, was mich zusammen mit Frühstück und unroutiniertem Packen von erst Zelt und dann Rucksack erst gegen halb neun loskommen ließ. Die Zeltstadt des Refuge de l’Onda hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon um weit mehr als die Hälfte verkleinert. War im Nachhinein betrachtet aber doch keine schlechte Idee, später loszuziehen, denn indem ich den geschäftigen High-Tech-Ultralight-Wandergruppen den Vortritt ließ, hatte ich den Weg ganz anders noch als gestern für mich fast menschenleer. Den Aufstieg schaffte ich erfreulich schnell; von da an nahm im Grunde eine einzige Gratwanderung die restliche Wegstrecke bis zum nächsten Refuge Petra Piana ein.
Petra Piana ist anders als L’Onda nicht ins Tal geduckt, sondern auf einem Hochplateau gelegen (daher der Name, übersetzt “ebener Fels”), was schon mal für ein unvergleichlich besseres Panorama sorgt. Statt Schafen und Pferden gibt es hier Kühe und eine Topoguidewarnung über räuberische wilde Schweine. Bis jetzt zum Glück noch keins gesichtet.
Was treibt man also, wenn man schon um 2 Uhr im Refuge einläuft? Der zweieinhalbstündige Aufstieg zum Monte Rotondo, dem zweithöchsten Gipfel Korsikas, der Sári und mir schon letztes Mal verwehrt blieb, wäre als Extratour, sogar mal ohne Rucksack, möglich gewesen, versprach aber, in Stress auszuarten. Da war doch ein gemütlicher Ausruhnachmittag auch ganz willkommen, der mir neben Pflichtübungen wie Essen, Duschen, T-Shirt-Waschen (hab ja verschwitzt, Shirts zum Wechseln einzupacken!) auch ganz viel Zeit dafür ließ, wofür ich mir ganz viel Zeit nehmen wollte: Lesen, Schreiben und dann auch mal ein Nickerchen halten.
Tag 3
Als “Etappe der Superlative” im Wanderführer angekündigt und mir von dem älteren Herrn in Orange als die auf ihrer ganzen Länge anspruchsvollste beschrieben, hielt das heutige Wegstück von Petra Piana nach Manganu, soweit ich es beurteilen kann, seine Versprechen. Da ich etwa eine Stunde früher loskam als gestern, konnte ich, auf dem ersten Bergsattel angelangt, die umliegenden Gipfel und Seen noch im Licht der tief stehenden Morgensonne bewundern. Und die macht irgendwie etwas ganz Besonderes aus jeder Landschaft.
Im späteren Verlauf der Etappe wurde das Panorama nicht minder spektakulär - Gratlinien zerrissen zwischen Himmel und Erde und in der Ferne, noch deutlicher als sonst, das Meer - und es gesellten sich die ersten knackigen Kletterpassagen zum Parcours. Lernte ich also am ersten Tag mit Rucksack laufen, am zweiten Bergsteigen, so brachte mir dieser dritte nun das Kraxeln mit Krax’n bei. Bitter nötig werde ich’s haben, denn nach Plan übermorgen werden ich mich der Königspassage des GR 20 gegenübersehen: dem Cirque de la Solitude, einem Talkessel, in dem Berichten der Nord-Süd-Wandersleute, die jenen Zirkus schon hinter sich haben, einmal 200 m quasi senkrecht runtergeht und auf der anderen Seite wieder hoch. Kann ja heiter werden...morgen steht erst einmal ein 22 km langer Waldspaziergang auf mittelhohem Terrain an.
Ansonsten war eine wichtige Erkenntnis, dass Bedürftigkeit unter Wandersgefährten sozialisiert: Indem ich irgendwie an einen Kochtopf für meine Kilopackung DIA-Reis (incollable) kommen musste, geriet ich ins Gespräch mit einer fidelen, Pietra-Bier (6€ / 0,5 l) trinkenden Gruppe, die sich, so stellte sich schnell heraus, wie geschätzt 60% der Gäste eines GR-20-Refuges aus Deutschland kam, genauer aus Karlsruhe, mir erst ihre Kochutensilien lieh und mir dann sehr, sehr hilfsbereit Tipps für die nächsten Tage gab, unter anderem besagten Cirque-Bericht. Wie bestätigt dürfte sich Sára hier vorkommen: Ze Germans are everywhere (and they love hiking)!
Tag 4
Müde, fertig und kaputt: mein Zustand im Schnelldurchlauf nach einer Etappe, die im Schafspelz daherkam, dann aber ziemlich schnell Zähne zu zeigen begann, sodass ich meinerseits Biss beweisen musste.
So gut ließ sich dieser Wald- und Wiesenspaziergang an, erst durch ein lichtes Buchenwäldchen, dann über über langgestreckte “Pozzine” (so heißen die Rasenflächen auf Torfboden mitten im Gebirge, die Kühe und wilde Pferde beweiden) bis zum schönen Lavu di Ninu, um anschließend nach einer mittelprächtigen Gratpassage in den viel versprechenden Wald von Valdu Niellu zu tauchen. Wie gesagt, landschaftlich war die Etappe ein Genuss und das Höhenprofil war meist wenig anspruchsvoll. Nur je ebener es dahinging, je weniger Konzentration dem Kopf und Anstrengung den Beinen abverlangt wurde, desto mehr richtete sich unwillkürlich meine Aufmerksamkeit auf dasjenige Leiden, das am schnellsten am lästigsten wird: das verfluchte Gewicht, mit dem der Rucksack an den Schultern hängt. So gestaltete sich die 22 km lange Etappe wenn schon nicht topografisch, dann immerhin physisch und psychisch (was ja immer einhergeht) als Berg- und Talfahrt. Hatte ich guten Mutes begonnen, so war ich mitten im Wald von Valdu Niellu, lustigerweise dem ebensten und am schönsten anzusehenden Teilstück der Strecke, an Körper und Geist soweit lädiert, dass eigentlich kurze Zeit gar nichts mehr ging. Unterzucker ließ grüßen, bis ich meinen “Zaubertrank” einsetzte: Dieser wird in fester Form verabreicht und besteht aus fünf Handvoll Rosinen, die nacheinander ohne Atemholen einzunehmen sind. Das Zeug in der Menge auf einen Sitz ist besser als Doping! Keine 5 Minuten später hatte ich komplett “la pêche”, flog die fehlende Stunde bis zu den Bergeries E Radule und auch noch gleicht die fast 700 Höhenmeter rauf bis zum auf 2000 m gelegenen Refuge Ciottulu di i Mori ohne nennenswerte größere Pause. Erst da fiel alle Kraft wieder von mir ab, und ohne Nachschub an Rosinen fiel mir der Weg von der Hütte zum Zeltplatz deutlich schwerer als die drei Stunden Powern vorher.
Und ja: Schultern und Füße sind geschundener denn je und ich finde, ich habe mir eine gute Mütze Schlaf kräftig verdient. Und wenns morgen regnen soll, wie der Hüttenwirt meinte, dann begrabe ich eben meine Ambitionen auf die Extra-Halbtagestour morgen früh, chille mich nur im Laufe des Tages die drei Stunden noch was ins nächste Refuge (Tighiettu) und mache davor und danach nen Wellnesstag im Zelt. Tant pis...et bonne nuit!
Tag 5
Wellnesstag? Denkste! Der einzige Luxus, den ich mir gönnte, war, bis halb acht liegenzubleiben. Da ich für die vormittägliche Extratour - Gott sei’s gedankt - alles stehen und liegen lassen und nur mit leichtem (!) Gepäck losziehen konnte, stand ich aber umso schneller in den Startlöchern für den Ausflug auf die Paglia Orba, mit 2525 m einer der höchsten Berge Korsikas und deshalb abseits des GR 20, aber unweit der Hütte. Theoretisch.
Eine gute Stunde später musste ich, auf einem Hochplateau angekommen, feststellen, dass es sich dabei unmöglich um dasjenige handeln konnte, von dem der Wanderführer sprach, traf einen Monsieur, dem es genauso ging, und lief wieder zurück in Richtung des Bergsattels namens Col des Maures, kurz vor welchem mein offensichtlich falscher Weg abzweigte.
Dann aber machte ich eine einschneidende Entdeckung: Steinhaufen, wie sie meinen Weg bis dahin gesäumt hatten, markieren nicht nur linear den einen Wanderweg, Steinhaufen sind scheinbar zufällig überall in der Landschaft verteilt und zieren mehr oder minder jeden überhaupt gangbaren Weg. Unter anderem auch jene Passage hoch in die Felsen, an denen ich zuvor, brav den Haufen vor meiner Nase folgend, untenrum vorbeigelaufen war. Dieser Weg enthielt nun auch deutlich mehr delikate Kletterpassagen (ohne Rucksack zumindest bergauf eine helle Freude!), von denen auch im Guide die Rede war. Logische Schlussfolgerung: Steige ich nur immer schön weiter hoch, bin ich gleich auf der Paglia Orba!
Vielleicht aber auch nicht, wie mir gleich beschieden war herauszufinden, nur auf einem ihrer Vorgipfel, namenlos gar und durch eine Bresche von gut 100 m Tiefe vom eigentlichen Haupt der umliegenden Bergwelt getrennt. Jetzt ließ ichs aber gut sein und besaan mich aufs Positive: Gipfelbrotzeit, zum ersten Mal Handynetz (und dann gleich volles!) und die Tatsache, einmal außerhalb der “Autobahn” GR 20 unterwegs zu sein, was
a) dadurch dass man selbst für die Wahl seines Wegs hauptverantwortlich ist und nicht nur der omnipräsenten weiß-roten Markierung nachtrottet, freieres Bergsteigen ermöglicht, welches
b) in das Wandererego befördernde Höhenmeterbereiche führt, die ein Fernwanderweg halt nicht hauptamtlich mitnehmen kann und
c) mit einer eigentümlichen Ruhe aufwartet. Auf meiner Runde, und ich war mit allen Irrwegen doch vier Stunden unterwegs, liefen mir im Ganzen etwa fünf Menschen übern Weg. Welch ein Gegensatz zu den “Bonjour”-Marathons auf dem GR! (Und welch ein Misanthrop, dem entlang eines Wanderwegs, der auf einer Länge von 9 Tagesmärschen eineinhalb Straßen quert, zu viele Menschen sein können!)
Nach der eben beschriebenen Delikatesse zum Frühstück war der weitere Verlauf des Tages eher Routineprogramm, aber nicht minder angenehm: nach pflichtschuldigem Absolvieren der 3,5 Stunden bis zum Refuge de Tighiettu belohnte ich mich mit einer (sogar warmen) Dusche, wusch nach 5 langen Tagen zum ersten Mal mein einziges T-Shirt richtig und kochte das nächste Kilo Pesto-Würschtl-Reis für die nächsten Tage ein. Die Italiener auf der Hütte meinten übrigens, der Cirque de la Solitude sei gar nicht so schlimm, halt nur ein bisschen “technisch”. Schau mer moi...
dann seng ma’s scho!
Tag 6
Es bleibt dabei. Auch am Abend nach dem großen “Cirque” halte ich meine erste Etappe noch immer für die (subjektiv!) schwierigste, schlimmste und nervenaufreibendste. Der - in der Tat gigantisch anzusehende - besagte Felssturz, den es heute zu queren galt, jagte mir hingegen nur im Vorhinein Lampenfieber ein. Vor Kälte zitternd oder vielleicht doch nicht nur machte ich von der Bocca Minuta die ersten zaghaften Schritte hinab in die Felwildnis, nur darauf wartend, dass endlich die gefährlichen, mit Ketten gesicherten Schwindelpassagen vor mir auftauchen mögen. Jene Ketten stellten sich dann, v.a. beim Abstieg, als ziemliche Mogelpackung heraus: An wirklich nur mäßig geneigtem Fels entlanglaufend waren die meisten eher ein unnötiges Tritthindernis, das man halt in die Hand nahm, weil es da war.
Auch auf ganzer Länge gesehen war der Cirque de la Solitude, gemessen daran, was in Büchern und Erzählungen anderer daraus gemacht wird, ein recht handsames Stück Weg. Was nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass die heutige Passage eine schöne Kletterei ist und bleibt, und beileibe nicht die einfachste. Denke ich allerdings an meine gestrigen Kraxeleien in Richtung Paglia Orba zurück oder auch an jenen - Jahre ist’s her - Abstieg von der Schärtenspitze, bei dem Haltekabel wirklich unerlässlich waren, verliert die heutige Etappe ihre furchteinflößende Ausnahmestellung.
Den Cirque und den Respekt davor also einmal überwunden und weit vor dem selbst gesteckten Zeitplan liegend verging für mich der Nachmittag in einem Hochgefühl gemächlichen Abstiegs und ausgedehnter Ess-, Lese- und Schreibpausen an schönen Fleckchen Erde, die hier beileibe nicht fehlen. So gut war ich drauf, dass mich noch einmal der Ehrgeiz packen sollte: Sozusagen als ultimative sportliche Herausforderung an mich selbst sowie krönende letzte ernstzunehmende GR-20-Etappe möchte ich die beiden folgenden Tagesmärsche in einem absolvieren und so vom Refuge im Ex-Wintersportort Ascu Stagnu durchlaufen bis zum letzten Refuge Ortu di u Piobbu. Ob das klappt, werden wir morgen erfahren...ich gehe auf Fall mal zeitig schlafen!
Tag 7
Früher als sonst war ich auf den Beinen, genauer gesagt gegen 5:10 Uhr, um möglichst zeitig meine Doppeletappe in Angriff nehmen zu können. Gleichzeitig durfte ich einem wahren Naturschauspiel beiwohnen: Tatsächlich war ich unvermutet zum ersten Mal zu der Stunde aufgestanden, in der der morgendliche Betrieb auf dem Zeltplatz am größten war; und wie da im Vollmondlicht die ganze Schar der Wanderer ihre Zelte abbaute, wie da Taschenlampen hin und her huschten und man sich höchstens flüsternd unterhielt, das hatte schon etwas Geheimnisvolles und Feierliches.
Glücklicherweise brach die ganze Meute wie immer in die Gegenrichtung auf, sodass ich - abgesehen von den drei, vormals vier, Jungs aus Hannover, die mich schon länger begleiten - auf meinem ersten Aufstieg des Tages ziemlich alleine war. Der Trainingseffekt machte sich bemerkbar und ich war erfreulich schnell oben angekommen. Konsequenterweise lief ich schon vor 11 Uhr im Refuge Carozzu ein, das in diesem Fall allerdings nur gut genug war, die Wasserflasche aufzufüllen und ein paar Handvoll Rosinen einzuwerfen für den nächsten Aufstieg, dessen 600 Höhenmeter ich in erstaunlich kurzer Zeit hinter mich brachte. Danach allerdings begann die Etappe sich zu ziehen. Zunächst sorgten Auf- und Abwärtskletterpassagen entlang der Gratlinie, der es für etwa 2 Stunden zu folgen galt, für physische Anstrengung und trotz des eindrucksvollen Panoramas gleichzeitig etwas Ungeduld, weil höhenmetertechnisch “nichts vorwärts ging”. Als der Weg dann endlich abwärts knickte, zog auch noch in Nullkommanichts Nebel auf, ich folgte eine Zeitlang den falschen Markierungen, lief im Kreis und fühlte mich wie Frodo im Alten Wald. Nur dass dessen Knie wohl nicht so schmerzten und der Ring keine 20 kg wog. Welch eine Erleichterung, da zu guter Letzt das Refuge zwischen den Bäumen auftauchen zu sehen.
Besagtes Refuge war, trotz schöner Lage inmitten von Birken und herzlicher Chefin, kochtechnisch (und das musste leider auch noch sein!) erheblich schlechter ausgestattet als Tighiettu zuletzt. Ich musste mir das verbliebene Kilogramm Nudeln im kleinen Topf in zwei Schüben zubereiten und hatte selbst zu allem Überfluss auch keine weiteren Raffinements mehr zu bieten als Salz und ein kümmerliches Stückchen Chorizo-Salami. Dafür hatte ich während der Kocherei ein lustiges Gespräch mit einem lustigen Belgier mit Schlitzaugen, dessen Spaghetti mit Parmesan es qualitativ offensichtlich glatt mit meinem Werk aufnehmen konnten. Macht doch Spaß und gibt einem irgendwie innerlich Auftrieb, sich für zehn Minuten mal wieder mit jemandem zu unterhalten, nachdem ich ja während meiner Wanderzeit Gesellschaft, so gut es ging, bewusst zu meiden versuchte.
Glücklicherweise verlor ich immerhin keine weitere Zeit mit unnötigem Luxus wie Körperhygiene, denn es gab genau eine Dusche, und als ich die benutzen wollte, standen schon fünf Leute vor mir Schlange. Doch bevor ich mich auf die olfaktorischen Härten der morgigen Rückkehr meiner mittlerweile wohl ziemlich irgen Irx'ln (+ das 9 Tage lang getragene T-Shirt, das irgendwann mal weiß gewesen sein muss) in zivilisierte Landstriche freuen konnte, war ich über ein paar Seiten Lektüre auch schon eingeschlafen...
Tag 8
Aus is’! Ein Pastis mit viel Eis begrüßte den Wanderer auf gemäßigten 275 Höhenmetern über NN in Calenzana. Die letzte Etappe war unspektakulär, nur wehrten sich meine Beine strikt gegen jeden Meter bergauf, obwohl es zwischendurch doch einige gab. Lieber Wanderführer, das war nicht der Deal für die letzte Etappe!
Ansonsten allerdings war es schön, den Wechsel der Landschaft durch die verschiedenen Vegetationszonen nach unten zu begleiten. Durch Wäldern gings und an duftenden Blumen vorbei, es wurde nicht nur tageszeitlich bedingt immer wärmer und die letzte Rast konnte ich schließlich zwischen Feigenbäumen und Brombeersträuchern halten. Seltsam, jetzt wieder inmitten eines Haufens Häuser zu sitzen und alle paar Sekunden Autos und Motorräder vorbeidröhnen zu hören. Gleich geht der Bus nach Calvi, was dort passiert (hoffentlich nix Unvorhergesehenes und hoffentlich ein neues T-Shirt), spare ich mir für den morgigen Bericht auf...
Tag 9
Der letzte Tag des Wanderurlaubs bestand in dessen glattem Gegenteil. Mein Aktionsradius beschränkte sich heute auf wenige Meter rund um den Strandliegeplatz. Aber der Reihe nach: Nachdem der Bus uns Wartende mit einer respektablen Stunde Verspätung endlich in Calenzana aufgegabelt und in Calvi wieder ausgespien hatte, fand ich mir zunächst ein preisreduziertes und hauptsächlich sauberes Shirt im Seemannslook, kaufte versprochene Postkarten sowie schmerzlich vermisste Lebens- und Genussmittel und quartierte mich sodann in einem strandnahen Campingplatz ein.
Calvi ist eine Stadtkulisse für Badetouristen: Alles, was es dort gibt, ist für Leute gemacht, die nicht dort leben. Die Fußgängerzone offeriert nichts als Mitbringsel und Strandsachen, dazwischen hängen Muschelrestaurants an der Hafenpromenade ihre Korsika-Menüs aus. Die höher gelegene Zitadelle ist unerlässlich, um das kulturelle Gewissen zu beruhigen (“Wir haben uns im Urlaub BlahXY angesehen, wirklich sehr schön war das.”), und sorgt gleichzeitig für eine etwas gediegenere Alternative in der Dinnerplanung. Hinter einem großen Parkplatz und der vom immer gleichen Zug befahrenen Bahntrasse, die wie überall auf Korsika zugleich als Bürgersteig dient, erstreckt sich der Strand, nicht sehr breit, aber mit familienfreundlich seichtem und warmem Wasser.
In jenem Idyll der Urlaubsbanalitäten trugen mich also meine Füße am letzten Tag meines Aufenthalts erst zum Zeitungskiosk und dann, wenig wählerisch, zu besagtem nichtssagenden, übervölkerten, kinderverschrieenen Strand, wo ich mir für die ZEIT richtig Zeit nahm und erst wieder aufstand, als die Uhr gebot, mich und Gepäck zur Fähre zu schleppen.
Adieu Korsika! Gut hat es getan, das selbstvergessene, bedürfnis- und pflichtenlose Leben, das ich neun Tage lang auf dir atmen durfte! Und langsam dämmert mir, dass du und dieses Meer, das man selbst von deinen innersten Gebirgen aus noch glitzern sieht, bald verdammt weit weg sein werdet...
Tag 0
Noch kein Wandertag, und hielt mich doch ganz schön auf Trab. Da ich in Sachen Reiseplanung Tendenz habe, immer spontaner, kreativer und kurzfristiger - kurz: unvorbereiteter - zu werden, war ich 12 Stunden vor Aufbruch noch nicht mit so brauchbaren Dingen wie etwa Wanderschuhen oder auch einem Zelt ausgerüstet. Also los, von GO-Sport (pfui!) zu Décathlon (hui!), en passant par l’Alcazar, auf le vélo Katjas Rucksack ein letztes Mal rollend auf dem Rücken.
Schwere Entscheidungen nötigte mir dann am Nachmittag die Nahrungsplanung bei DIA ab. Viel kaufen, viel tragen und sich dafür nicht in den Refuges neppen lassen oder doch von einigen Einkäufen absehen und etwas mehr Geld einstecken? Armer zerlumpter Freiwilliger, der ich bin, wollte ich den Urlaub eigentlich so billig wie irgend möglich halten und hoffte so, auf etwa 18 kg Rucksackgewicht zusteuern zu können. Das ist das empfohlene Maximum für Männer, müsste also genügend Vorräte erlauben und trotzdem tragbar sein, soweit meine Überlegung. Als ich jedoch, bereits Schlimmes ahnend, vor Neugierde dann kurz vorm überhasteten Abschied von Sári noch bepackt auf die Waage sprang, blieb die Nadel erst bei runden 100 Kilogramm stehen! Nettowiegen ergab 74, ich trug also im Moment geschlagene 26 kg mit mir rum! Kein Wunder, denn ich hatte doch in vielerlei Hinsicht letzten Endes die Maximallösung gewählt und schleppte nicht nur Schlafsack, Zelt und Trainingshose aufm Buckel, sondern auch je 2 kg Brot und Reis, 1 kg Nudeln, 2 Boxen vorgekochten Linseneintopf, Marmelade, Salz etc....und nicht zu vergessen 3 Liter Wasser! Welchen Preis die Komplettautonomie hat, konnte ich schon auf dem Weg zu St Charles erahnen, und im Zug nach Toulon taucht beim Gedanken an die 1000 Höhenmeter bergauf, die morgen anstehen, eine muntere Schar Fragezeichen in meinem Kopf auf. Das gestehe ich aber im Moment höchstens mir selbst ein. Wer die Herausforderung sucht, muss sie auch aushalten können; ich freue mich indes nicht minder darauf, der zivilisierten Welt und ihren sozialen Spinnennetzen mal für zehn Tage den Allerwertesten zuzukehren und nicht nur über Berge, sondern auch ein bisschen in mich zu gehen. Momente einsamer Konzentration und Kontemplation genießen, die eigene Zeit an nichts und niemanden abtreten, ja, das fehlte...braucht jetzt nur kein Unwetter zu kommen!
Tag 1
Die Abendsonne, die im Refuge L’Onda, der ersten Schutzhütte, in der ich untergekommen bin, auf die umgebenden Felswände fällt, vergoldet im Nachhinein auch meinen ersten GR-20-Tag. Dann aber erinnern mich Fußsohlen und Schultern daran, dass doch nicht alles geschenkt war heute, eher im Gegenteil. Ach ja, überhaupt: diese verfluchte Diskrepanz zwischen Ankündigung und Ausführung. Beispiele? Ich lerne ganz fleißig Russisch, kaufe mir gleich mal ein Buch, das kann ich dann durcharbeiten. Pustekuchen, 50 Vokabeln bis jetzt. Ich verbessere dolle meine Gitarrenskills anhand dieser Jazzschule. Sieht nicht ganz einfach aus, aber ich hab ja Zeit. Nicht erst seit ihrem Abhandenkommen habe ich die Instrumente kaum noch angefasst. Und jetzt also: Ich lauf dann mal den GR 20, den schwierigsten Fernwanderweg Europas, und tu mir dazu noch 25 kg Gepäck auf, bin ja n sportlicher Typ. Klappt schon irgendwie. Eine wie immer lobenswerte Grundhaltung eigentlich, nur diesmal zieht der Ticketkauf auch die Umsetzung, und zwar die komplette, der großspurigen Ankündigung an mich selbst unvermeidlich nach sich. Diese Konsequenz der Geschehnisse war es, die mir im Zug nach Toulon, in der Fähre nach Ajaccio und im Bus hoch nach Vizzavona ein ständig wachsendes flaues Gefühl im Magen gab. Als der Busfahrer dann früher als erwartet anhielt und brüsk “Vizzavona, GR 20!” rief, klang es, als würde ein wenig gnädiger Richter meine Gefängnisstrafe verlesen.
Neben den beschwingt einherschreitenden, stockschwingenden Wanderern, die mir bald entgegenkamen, fühlte ich mich wie ein dummer, belächelnswerter Grünschnabel (was ich im Prinzip auch ganz genau bin), als ich mit meinem halben Zentner auf dem Rücken lostaumelte, mich gleich zu Beginn auf allerlei verkehrte Wege begab, alles auf der Suche nach Wasser, das ich nicht clever genug war, rechtzeitig aufzufüllen. Je länger, je heißer sich der Anstieg zog, begann ich im Rhythmus meiner keuchenden 15-Minuten-Pausen angstvoll über ein mögliches Scheitern nachzudenken. Hatte ich, der ich eigentlich an Gelingen von Geplantem gewöhnt bin, mich dieses Mal schlichtweg überhoben?
Der größte Anstieg der gesamten Tour gleich am ersten Tag: Wer sollte da nicht an sich zweifeln oder gar verzweifeln? Aber siehe da: Das Bergauf-Hamsterrad, auf dem ich mich gefangen fühlte, hatte ein Ende, als ich es noch nicht zu hoffen wagte, der stechende Schmerz im Knie verging, wie er gekommen war, und von oben von der Punta Muratello ließ sich das Refuge schon ausmachen. Habe ich also mich und meinen momentan größten Feind, den Rucksack, ins Ziel gebracht. Eins ist klar: Das hier bleibt nicht bei einer nachdenklichen Selbstfindungstour, das wird in allererster Linie eine sportliche Herausforderung, bei der ich jeden Tag um die bloße Ankunft zu kämpfen haben werde. Wenn ich hier allerdings angetreten bin, um meinen wahren Limits ins Auge zu sehen, auch das hat mir der Tag gezeigt, dann müssen die verdammt hoch liegen und ich bin neugierig, sie kennen zu lernen.
Ein Neuntel habe ich schon. Ein Neuntel habe ich erst, aber das mit dem schlimmsten Anstieg. Der Rucksack wird nur noch leichter...
Tag 2
Jetzt schaff ich’s! Der heutige Tag konnte mir auf einem leichteren Wegstück die ersehnte Konsolidierung verschaffen und die Zuversicht, nun auch alle anderen Etappen bestehen zu können. Es ist unglaublich, an sich selbst zu merken, wie sich nach nur einem Tag “Training unter Wettkampfbedingungen” der Rucksack deutlich leichter trägt - und so viel habe ich nun wieder nicht weggefuttert...
Ich stand also entgegen vagen besseren Vorsätzen erst etwas nach 7 fröstelnd auf, was mich zusammen mit Frühstück und unroutiniertem Packen von erst Zelt und dann Rucksack erst gegen halb neun loskommen ließ. Die Zeltstadt des Refuge de l’Onda hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon um weit mehr als die Hälfte verkleinert. War im Nachhinein betrachtet aber doch keine schlechte Idee, später loszuziehen, denn indem ich den geschäftigen High-Tech-Ultralight-Wandergruppen den Vortritt ließ, hatte ich den Weg ganz anders noch als gestern für mich fast menschenleer. Den Aufstieg schaffte ich erfreulich schnell; von da an nahm im Grunde eine einzige Gratwanderung die restliche Wegstrecke bis zum nächsten Refuge Petra Piana ein.
Petra Piana ist anders als L’Onda nicht ins Tal geduckt, sondern auf einem Hochplateau gelegen (daher der Name, übersetzt “ebener Fels”), was schon mal für ein unvergleichlich besseres Panorama sorgt. Statt Schafen und Pferden gibt es hier Kühe und eine Topoguidewarnung über räuberische wilde Schweine. Bis jetzt zum Glück noch keins gesichtet.
Was treibt man also, wenn man schon um 2 Uhr im Refuge einläuft? Der zweieinhalbstündige Aufstieg zum Monte Rotondo, dem zweithöchsten Gipfel Korsikas, der Sári und mir schon letztes Mal verwehrt blieb, wäre als Extratour, sogar mal ohne Rucksack, möglich gewesen, versprach aber, in Stress auszuarten. Da war doch ein gemütlicher Ausruhnachmittag auch ganz willkommen, der mir neben Pflichtübungen wie Essen, Duschen, T-Shirt-Waschen (hab ja verschwitzt, Shirts zum Wechseln einzupacken!) auch ganz viel Zeit dafür ließ, wofür ich mir ganz viel Zeit nehmen wollte: Lesen, Schreiben und dann auch mal ein Nickerchen halten.
Tag 3
Als “Etappe der Superlative” im Wanderführer angekündigt und mir von dem älteren Herrn in Orange als die auf ihrer ganzen Länge anspruchsvollste beschrieben, hielt das heutige Wegstück von Petra Piana nach Manganu, soweit ich es beurteilen kann, seine Versprechen. Da ich etwa eine Stunde früher loskam als gestern, konnte ich, auf dem ersten Bergsattel angelangt, die umliegenden Gipfel und Seen noch im Licht der tief stehenden Morgensonne bewundern. Und die macht irgendwie etwas ganz Besonderes aus jeder Landschaft.
Im späteren Verlauf der Etappe wurde das Panorama nicht minder spektakulär - Gratlinien zerrissen zwischen Himmel und Erde und in der Ferne, noch deutlicher als sonst, das Meer - und es gesellten sich die ersten knackigen Kletterpassagen zum Parcours. Lernte ich also am ersten Tag mit Rucksack laufen, am zweiten Bergsteigen, so brachte mir dieser dritte nun das Kraxeln mit Krax’n bei. Bitter nötig werde ich’s haben, denn nach Plan übermorgen werden ich mich der Königspassage des GR 20 gegenübersehen: dem Cirque de la Solitude, einem Talkessel, in dem Berichten der Nord-Süd-Wandersleute, die jenen Zirkus schon hinter sich haben, einmal 200 m quasi senkrecht runtergeht und auf der anderen Seite wieder hoch. Kann ja heiter werden...morgen steht erst einmal ein 22 km langer Waldspaziergang auf mittelhohem Terrain an.
Ansonsten war eine wichtige Erkenntnis, dass Bedürftigkeit unter Wandersgefährten sozialisiert: Indem ich irgendwie an einen Kochtopf für meine Kilopackung DIA-Reis (incollable) kommen musste, geriet ich ins Gespräch mit einer fidelen, Pietra-Bier (6€ / 0,5 l) trinkenden Gruppe, die sich, so stellte sich schnell heraus, wie geschätzt 60% der Gäste eines GR-20-Refuges aus Deutschland kam, genauer aus Karlsruhe, mir erst ihre Kochutensilien lieh und mir dann sehr, sehr hilfsbereit Tipps für die nächsten Tage gab, unter anderem besagten Cirque-Bericht. Wie bestätigt dürfte sich Sára hier vorkommen: Ze Germans are everywhere (and they love hiking)!
Tag 4
Müde, fertig und kaputt: mein Zustand im Schnelldurchlauf nach einer Etappe, die im Schafspelz daherkam, dann aber ziemlich schnell Zähne zu zeigen begann, sodass ich meinerseits Biss beweisen musste.
So gut ließ sich dieser Wald- und Wiesenspaziergang an, erst durch ein lichtes Buchenwäldchen, dann über über langgestreckte “Pozzine” (so heißen die Rasenflächen auf Torfboden mitten im Gebirge, die Kühe und wilde Pferde beweiden) bis zum schönen Lavu di Ninu, um anschließend nach einer mittelprächtigen Gratpassage in den viel versprechenden Wald von Valdu Niellu zu tauchen. Wie gesagt, landschaftlich war die Etappe ein Genuss und das Höhenprofil war meist wenig anspruchsvoll. Nur je ebener es dahinging, je weniger Konzentration dem Kopf und Anstrengung den Beinen abverlangt wurde, desto mehr richtete sich unwillkürlich meine Aufmerksamkeit auf dasjenige Leiden, das am schnellsten am lästigsten wird: das verfluchte Gewicht, mit dem der Rucksack an den Schultern hängt. So gestaltete sich die 22 km lange Etappe wenn schon nicht topografisch, dann immerhin physisch und psychisch (was ja immer einhergeht) als Berg- und Talfahrt. Hatte ich guten Mutes begonnen, so war ich mitten im Wald von Valdu Niellu, lustigerweise dem ebensten und am schönsten anzusehenden Teilstück der Strecke, an Körper und Geist soweit lädiert, dass eigentlich kurze Zeit gar nichts mehr ging. Unterzucker ließ grüßen, bis ich meinen “Zaubertrank” einsetzte: Dieser wird in fester Form verabreicht und besteht aus fünf Handvoll Rosinen, die nacheinander ohne Atemholen einzunehmen sind. Das Zeug in der Menge auf einen Sitz ist besser als Doping! Keine 5 Minuten später hatte ich komplett “la pêche”, flog die fehlende Stunde bis zu den Bergeries E Radule und auch noch gleicht die fast 700 Höhenmeter rauf bis zum auf 2000 m gelegenen Refuge Ciottulu di i Mori ohne nennenswerte größere Pause. Erst da fiel alle Kraft wieder von mir ab, und ohne Nachschub an Rosinen fiel mir der Weg von der Hütte zum Zeltplatz deutlich schwerer als die drei Stunden Powern vorher.
Und ja: Schultern und Füße sind geschundener denn je und ich finde, ich habe mir eine gute Mütze Schlaf kräftig verdient. Und wenns morgen regnen soll, wie der Hüttenwirt meinte, dann begrabe ich eben meine Ambitionen auf die Extra-Halbtagestour morgen früh, chille mich nur im Laufe des Tages die drei Stunden noch was ins nächste Refuge (Tighiettu) und mache davor und danach nen Wellnesstag im Zelt. Tant pis...et bonne nuit!
Tag 5
Wellnesstag? Denkste! Der einzige Luxus, den ich mir gönnte, war, bis halb acht liegenzubleiben. Da ich für die vormittägliche Extratour - Gott sei’s gedankt - alles stehen und liegen lassen und nur mit leichtem (!) Gepäck losziehen konnte, stand ich aber umso schneller in den Startlöchern für den Ausflug auf die Paglia Orba, mit 2525 m einer der höchsten Berge Korsikas und deshalb abseits des GR 20, aber unweit der Hütte. Theoretisch.
Eine gute Stunde später musste ich, auf einem Hochplateau angekommen, feststellen, dass es sich dabei unmöglich um dasjenige handeln konnte, von dem der Wanderführer sprach, traf einen Monsieur, dem es genauso ging, und lief wieder zurück in Richtung des Bergsattels namens Col des Maures, kurz vor welchem mein offensichtlich falscher Weg abzweigte.
Dann aber machte ich eine einschneidende Entdeckung: Steinhaufen, wie sie meinen Weg bis dahin gesäumt hatten, markieren nicht nur linear den einen Wanderweg, Steinhaufen sind scheinbar zufällig überall in der Landschaft verteilt und zieren mehr oder minder jeden überhaupt gangbaren Weg. Unter anderem auch jene Passage hoch in die Felsen, an denen ich zuvor, brav den Haufen vor meiner Nase folgend, untenrum vorbeigelaufen war. Dieser Weg enthielt nun auch deutlich mehr delikate Kletterpassagen (ohne Rucksack zumindest bergauf eine helle Freude!), von denen auch im Guide die Rede war. Logische Schlussfolgerung: Steige ich nur immer schön weiter hoch, bin ich gleich auf der Paglia Orba!
Vielleicht aber auch nicht, wie mir gleich beschieden war herauszufinden, nur auf einem ihrer Vorgipfel, namenlos gar und durch eine Bresche von gut 100 m Tiefe vom eigentlichen Haupt der umliegenden Bergwelt getrennt. Jetzt ließ ichs aber gut sein und besaan mich aufs Positive: Gipfelbrotzeit, zum ersten Mal Handynetz (und dann gleich volles!) und die Tatsache, einmal außerhalb der “Autobahn” GR 20 unterwegs zu sein, was
a) dadurch dass man selbst für die Wahl seines Wegs hauptverantwortlich ist und nicht nur der omnipräsenten weiß-roten Markierung nachtrottet, freieres Bergsteigen ermöglicht, welches
b) in das Wandererego befördernde Höhenmeterbereiche führt, die ein Fernwanderweg halt nicht hauptamtlich mitnehmen kann und
c) mit einer eigentümlichen Ruhe aufwartet. Auf meiner Runde, und ich war mit allen Irrwegen doch vier Stunden unterwegs, liefen mir im Ganzen etwa fünf Menschen übern Weg. Welch ein Gegensatz zu den “Bonjour”-Marathons auf dem GR! (Und welch ein Misanthrop, dem entlang eines Wanderwegs, der auf einer Länge von 9 Tagesmärschen eineinhalb Straßen quert, zu viele Menschen sein können!)
Nach der eben beschriebenen Delikatesse zum Frühstück war der weitere Verlauf des Tages eher Routineprogramm, aber nicht minder angenehm: nach pflichtschuldigem Absolvieren der 3,5 Stunden bis zum Refuge de Tighiettu belohnte ich mich mit einer (sogar warmen) Dusche, wusch nach 5 langen Tagen zum ersten Mal mein einziges T-Shirt richtig und kochte das nächste Kilo Pesto-Würschtl-Reis für die nächsten Tage ein. Die Italiener auf der Hütte meinten übrigens, der Cirque de la Solitude sei gar nicht so schlimm, halt nur ein bisschen “technisch”. Schau mer moi...
dann seng ma’s scho!
Tag 6
Es bleibt dabei. Auch am Abend nach dem großen “Cirque” halte ich meine erste Etappe noch immer für die (subjektiv!) schwierigste, schlimmste und nervenaufreibendste. Der - in der Tat gigantisch anzusehende - besagte Felssturz, den es heute zu queren galt, jagte mir hingegen nur im Vorhinein Lampenfieber ein. Vor Kälte zitternd oder vielleicht doch nicht nur machte ich von der Bocca Minuta die ersten zaghaften Schritte hinab in die Felwildnis, nur darauf wartend, dass endlich die gefährlichen, mit Ketten gesicherten Schwindelpassagen vor mir auftauchen mögen. Jene Ketten stellten sich dann, v.a. beim Abstieg, als ziemliche Mogelpackung heraus: An wirklich nur mäßig geneigtem Fels entlanglaufend waren die meisten eher ein unnötiges Tritthindernis, das man halt in die Hand nahm, weil es da war.
Auch auf ganzer Länge gesehen war der Cirque de la Solitude, gemessen daran, was in Büchern und Erzählungen anderer daraus gemacht wird, ein recht handsames Stück Weg. Was nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass die heutige Passage eine schöne Kletterei ist und bleibt, und beileibe nicht die einfachste. Denke ich allerdings an meine gestrigen Kraxeleien in Richtung Paglia Orba zurück oder auch an jenen - Jahre ist’s her - Abstieg von der Schärtenspitze, bei dem Haltekabel wirklich unerlässlich waren, verliert die heutige Etappe ihre furchteinflößende Ausnahmestellung.
Den Cirque und den Respekt davor also einmal überwunden und weit vor dem selbst gesteckten Zeitplan liegend verging für mich der Nachmittag in einem Hochgefühl gemächlichen Abstiegs und ausgedehnter Ess-, Lese- und Schreibpausen an schönen Fleckchen Erde, die hier beileibe nicht fehlen. So gut war ich drauf, dass mich noch einmal der Ehrgeiz packen sollte: Sozusagen als ultimative sportliche Herausforderung an mich selbst sowie krönende letzte ernstzunehmende GR-20-Etappe möchte ich die beiden folgenden Tagesmärsche in einem absolvieren und so vom Refuge im Ex-Wintersportort Ascu Stagnu durchlaufen bis zum letzten Refuge Ortu di u Piobbu. Ob das klappt, werden wir morgen erfahren...ich gehe auf Fall mal zeitig schlafen!
Tag 7
Früher als sonst war ich auf den Beinen, genauer gesagt gegen 5:10 Uhr, um möglichst zeitig meine Doppeletappe in Angriff nehmen zu können. Gleichzeitig durfte ich einem wahren Naturschauspiel beiwohnen: Tatsächlich war ich unvermutet zum ersten Mal zu der Stunde aufgestanden, in der der morgendliche Betrieb auf dem Zeltplatz am größten war; und wie da im Vollmondlicht die ganze Schar der Wanderer ihre Zelte abbaute, wie da Taschenlampen hin und her huschten und man sich höchstens flüsternd unterhielt, das hatte schon etwas Geheimnisvolles und Feierliches.
Glücklicherweise brach die ganze Meute wie immer in die Gegenrichtung auf, sodass ich - abgesehen von den drei, vormals vier, Jungs aus Hannover, die mich schon länger begleiten - auf meinem ersten Aufstieg des Tages ziemlich alleine war. Der Trainingseffekt machte sich bemerkbar und ich war erfreulich schnell oben angekommen. Konsequenterweise lief ich schon vor 11 Uhr im Refuge Carozzu ein, das in diesem Fall allerdings nur gut genug war, die Wasserflasche aufzufüllen und ein paar Handvoll Rosinen einzuwerfen für den nächsten Aufstieg, dessen 600 Höhenmeter ich in erstaunlich kurzer Zeit hinter mich brachte. Danach allerdings begann die Etappe sich zu ziehen. Zunächst sorgten Auf- und Abwärtskletterpassagen entlang der Gratlinie, der es für etwa 2 Stunden zu folgen galt, für physische Anstrengung und trotz des eindrucksvollen Panoramas gleichzeitig etwas Ungeduld, weil höhenmetertechnisch “nichts vorwärts ging”. Als der Weg dann endlich abwärts knickte, zog auch noch in Nullkommanichts Nebel auf, ich folgte eine Zeitlang den falschen Markierungen, lief im Kreis und fühlte mich wie Frodo im Alten Wald. Nur dass dessen Knie wohl nicht so schmerzten und der Ring keine 20 kg wog. Welch eine Erleichterung, da zu guter Letzt das Refuge zwischen den Bäumen auftauchen zu sehen.
Besagtes Refuge war, trotz schöner Lage inmitten von Birken und herzlicher Chefin, kochtechnisch (und das musste leider auch noch sein!) erheblich schlechter ausgestattet als Tighiettu zuletzt. Ich musste mir das verbliebene Kilogramm Nudeln im kleinen Topf in zwei Schüben zubereiten und hatte selbst zu allem Überfluss auch keine weiteren Raffinements mehr zu bieten als Salz und ein kümmerliches Stückchen Chorizo-Salami. Dafür hatte ich während der Kocherei ein lustiges Gespräch mit einem lustigen Belgier mit Schlitzaugen, dessen Spaghetti mit Parmesan es qualitativ offensichtlich glatt mit meinem Werk aufnehmen konnten. Macht doch Spaß und gibt einem irgendwie innerlich Auftrieb, sich für zehn Minuten mal wieder mit jemandem zu unterhalten, nachdem ich ja während meiner Wanderzeit Gesellschaft, so gut es ging, bewusst zu meiden versuchte.
Glücklicherweise verlor ich immerhin keine weitere Zeit mit unnötigem Luxus wie Körperhygiene, denn es gab genau eine Dusche, und als ich die benutzen wollte, standen schon fünf Leute vor mir Schlange. Doch bevor ich mich auf die olfaktorischen Härten der morgigen Rückkehr meiner mittlerweile wohl ziemlich irgen Irx'ln (+ das 9 Tage lang getragene T-Shirt, das irgendwann mal weiß gewesen sein muss) in zivilisierte Landstriche freuen konnte, war ich über ein paar Seiten Lektüre auch schon eingeschlafen...
Tag 8
Aus is’! Ein Pastis mit viel Eis begrüßte den Wanderer auf gemäßigten 275 Höhenmetern über NN in Calenzana. Die letzte Etappe war unspektakulär, nur wehrten sich meine Beine strikt gegen jeden Meter bergauf, obwohl es zwischendurch doch einige gab. Lieber Wanderführer, das war nicht der Deal für die letzte Etappe!
Ansonsten allerdings war es schön, den Wechsel der Landschaft durch die verschiedenen Vegetationszonen nach unten zu begleiten. Durch Wäldern gings und an duftenden Blumen vorbei, es wurde nicht nur tageszeitlich bedingt immer wärmer und die letzte Rast konnte ich schließlich zwischen Feigenbäumen und Brombeersträuchern halten. Seltsam, jetzt wieder inmitten eines Haufens Häuser zu sitzen und alle paar Sekunden Autos und Motorräder vorbeidröhnen zu hören. Gleich geht der Bus nach Calvi, was dort passiert (hoffentlich nix Unvorhergesehenes und hoffentlich ein neues T-Shirt), spare ich mir für den morgigen Bericht auf...
Tag 9
Der letzte Tag des Wanderurlaubs bestand in dessen glattem Gegenteil. Mein Aktionsradius beschränkte sich heute auf wenige Meter rund um den Strandliegeplatz. Aber der Reihe nach: Nachdem der Bus uns Wartende mit einer respektablen Stunde Verspätung endlich in Calenzana aufgegabelt und in Calvi wieder ausgespien hatte, fand ich mir zunächst ein preisreduziertes und hauptsächlich sauberes Shirt im Seemannslook, kaufte versprochene Postkarten sowie schmerzlich vermisste Lebens- und Genussmittel und quartierte mich sodann in einem strandnahen Campingplatz ein.
Calvi ist eine Stadtkulisse für Badetouristen: Alles, was es dort gibt, ist für Leute gemacht, die nicht dort leben. Die Fußgängerzone offeriert nichts als Mitbringsel und Strandsachen, dazwischen hängen Muschelrestaurants an der Hafenpromenade ihre Korsika-Menüs aus. Die höher gelegene Zitadelle ist unerlässlich, um das kulturelle Gewissen zu beruhigen (“Wir haben uns im Urlaub BlahXY angesehen, wirklich sehr schön war das.”), und sorgt gleichzeitig für eine etwas gediegenere Alternative in der Dinnerplanung. Hinter einem großen Parkplatz und der vom immer gleichen Zug befahrenen Bahntrasse, die wie überall auf Korsika zugleich als Bürgersteig dient, erstreckt sich der Strand, nicht sehr breit, aber mit familienfreundlich seichtem und warmem Wasser.
In jenem Idyll der Urlaubsbanalitäten trugen mich also meine Füße am letzten Tag meines Aufenthalts erst zum Zeitungskiosk und dann, wenig wählerisch, zu besagtem nichtssagenden, übervölkerten, kinderverschrieenen Strand, wo ich mir für die ZEIT richtig Zeit nahm und erst wieder aufstand, als die Uhr gebot, mich und Gepäck zur Fähre zu schleppen.
Adieu Korsika! Gut hat es getan, das selbstvergessene, bedürfnis- und pflichtenlose Leben, das ich neun Tage lang auf dir atmen durfte! Und langsam dämmert mir, dass du und dieses Meer, das man selbst von deinen innersten Gebirgen aus noch glitzern sieht, bald verdammt weit weg sein werdet...
king-tob0 - 22. Aug, 11:05

Der Grund für diese Zugfahrt etwa ist eins: Er hört auf den sonderbaren Namen „Tauschrausch“, seinen für meine Ohren etwas missratenen und in Blumenwiesen tollende Kleinkinder evozierenden Zusatz „Ökiglück“ erwähne ich hingegen nur widerstrebend und der Vollständigkeit halber. Von der Namensästhetik einmal ganz abgesehen bedeutet Tauschrausch das Privileg des FÖJ-lers, seiner Einsatzstelle für eine Woche im Jahr den Rücken zu kehren, sich ein (leider nicht erstattbares) Zugticket zu einem seiner Öko-Kollegen zu holen und ihm eine Woche bei der Arbeit zu helfen. Das Ganze spielt sich etwas später dann andersherum ab. Dolle Sache im Ganzen. 

War ich beim eben verschriftlichten Reisebericht über Lyon nur vorsichtig enthusiastisch, so gibt es bei der anderen Destination, die ich gemeinsam mit Sára ansteuerte, keine zwei Meinungen: Korsika ist der Wahnsinn! Die mir bislang nur aus dem betreffenden Asterix-Band bekannte Mittelmeerinsel beherbergt nicht nur (aber schon auch nicht zu knapp) wilde Schweine und knorrige Alte, sondern auch eine atemberaubende Naturvielfalt und ist von Marseille aus so leicht und kostengünstig zu erreichen, dass es schade gewesen wäre, das Jahr verstreichen zu lassen, ohne einmal dort gewesen zu sein. Um die Reisekosten minimal zu halten, haben wir also versucht, couchzusurfen, als von den ca. 30 von Sára angeschrieben Korsen jedoch nur ein Bretone antwortete (merci, Thierry!), war die beste Lösung, sich im Tausch gegen korsische Leckereien die nötige Campingausrüstung zusammenzuleihen und die lauen Nächte auf der „Insel der Schönheit“ romantisch mit ein paar Spinnen (Sára meinte: „Uááááááá!!!“) und vielen verrotteten Oliven im Zweimannzelt zu verbringen.
Corte war der klare Höhepunkt unseres Trips. Schon der Kern der 20000-Einwohner-Universitätsstadt ist wunderschön auf einer Felsnase erbaut, schaffte es aber trotzdem nicht, uns dauerhaft von einem Gewaltmarsch ins umliegende Gebirge abzuhalten. Wie schon kürzlich in den Calanques endete für die arme Sára eine harmlose Wanderung mit mir in übler Plackerei, da starker Höhenwind, unzureichende Bekleidung, ein seltsamer Schmerz in ihrem Fuß und ein Aufstieg von 1700 Höhenmetern eine unglückliche Verbindung eingingen. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir (übrigens auch in Sáras Augen) einen unglaublich tollen Tag in großartiger Bergkulisse verbracht haben. Den Monte Rotondo mit seinen 2600 m ließ uns die Zeitplanung leider nicht ganz bezwingen, dafür liefen wir Mitte Mai durch Schnee, der noch bis unter 2000 m anzutreffen war. Als wir für das letzte demotivierend lange Stück des Abstiegs auch noch ein nettes italienisches Ehepaar anhalten konnten, das uns im Mercedes-SUV auf Ledersitzen ins Tal chauffierte, war tatsächlich alles gut. 


Am Donnerstag vor einer Woche also mit Yannick und „rapatriée“ Katja in den TGV gestiegen, der einen rasend schnell nach Paris bringt, von wo uns ein Nachtzug mit allen Unannehmlichkeiten eines Nachtzuges - quälend langsam, laut, fremde Leute im Abteil, die auch noch Platz beanspruchen - in die Stadt unseres dritten und (man mag gar nicht dran denken) vorletzten FÖJ-Seminars ratterte. Börlin Äitsch-Bie-Eff, Main Train Station. Die meisten Leute steigen dort aus. 

Die
Immer wieder schön ist auch ein Besuch im
Die Vielfalt, Nahrhaftigkeit und preisliche Attraktivität des Berliner Fast-Food-Spektrums. Eins nach dem andern:
Berlin und Berliner. Nach den Einzelteilen möchte ich noch eben kurz aufs Ganze zu sprechen kommen. Auf eine Stadt, die mich zuallererst merken ließ, dass sich meine Maßstäbe im letzten halben Jahr wohl ziemlich kräftig in Richtung des südmediterranen „bordel“ verschoben haben, das Marseille vielerorts darstellt. Gleich bei Ankunft hat mich nämlich die unglaubliche Weitläufigkeit der Stadt ziemlich kalt erwischt. Was in Marseille die Breite der Straße ist, ist hier die Breite des Bürgersteigs, die Breite des Marseiller Trottoirs hingegen entspricht im Berliner Stadtbild höchstens der Randmarkierung des Fahrradwegs. Überhaupt: Fahrräder an allen Ecken und Enden! Fahrräder vor jedem Gebäude! Unglaublich eigentlich. 
Da ich gerade in den letzten Tagen bemerken durfte, wie viel Zeit und Energie der selbst ernannte „Perfektionist“ (was ich bestätigen kann) Yannick in die Erstellung eines Films zu unserem zweiten Seminar investiert, möchte ich euch denselben natürlich nicht vorenthalten:
Wer sich zum Beispiel freut, im kalten Deutschland zu bibbern, dabei aber immerhin Skifahren gehen zu können, fühle sich hiermit eines besseren belehrt, um nicht zu sagen „gnaaatzt“, und möge die Existenz des train des neiges (Schneezug) zur Kenntnis nehmen. Eben auf jenen sind Amelie, Yannick und ich nämlich vor einigen Wochenenden aufgesprungen und für 15 Euro Fahrtpauschale in sagenhaften 4,5 Stunden (einfach) in die Hautes-Alpes hochgekrochen. Die Entschädigung allerdings war einmalig. Am Ende der Reise nämlich erwartete uns ein winterliches Bergmassiv der Superlative namens Dévoluy. Genauer gesagt Superdévoluy, wie sich ganz unbescheiden die Hotelbetonburg in der Talstation nennt.** Dadurch jedoch, dass genau dort die gesamte Bettenkapazität zusammengezogen ist, ist - und das ist der Vorteil dabei - der Rest des Talkessels quasi unbesiedelt. Sobald die Supertourismusfabrik also außer Sicht gerät, genießt man eine herrliche Rundumsicht auf eine Landschaft, die mir im Vergleich zu den heimischen Nordalpen um vieles weiträumiger, großzügiger, lichtdurchfluteter, winterlicher, kurz: schöner vorkommt. Mein Eindruck mag vielleicht auch daher rühren, dass uns unser Fortbewegungsmittel mehr Zeit zum Gucken ließ als die zu Hause üblichen Ski. Wir hatten uns im Sportgeschäft im Tal Schneeschuhe geliehen - offensichtlich ein französischer Volkssport -, mit denen man auf keinerlei Lift oder gar Piste angewiesen ist, sondern einfach querfeldein gehen kann.
Wir hielten uns, da auf keinerlei versprochene Pfadmarkierung Verlass war, einfach an die Spuren unserer Vor-Gänger und landeten schließlich bei strahlendem Sonnenschein mit letzten Kräften auf einem Berggipfel, auf dem man sich zum Foto-Posen und Riko-Batteln erst mal der Oberbekleidung entledigte, es aber dann so warm fand, dass man es noch eine ganze Weile oben ohne aushielt. Der Rückweg brachte uns denn noch, und damit sei der Tag beschlossen, die wertvolle Erkenntnis ein, dass im Pulvertiefschneefeld auf Schneeschuhen bergab zu surfen für den Wandersmann ein enormer Spaßgewinn sein kann, wenn zwischendrin allerdings Pappschnee bremst und der Trägheitssatz greift, dann eher für die andern... Ein schlechter Superkaffee in der Bar unten ließ gefrorene Gliedmaßen und Schnee in der Kleidung vergessen und leerte die Reisekasse restlos. 
Und genau DAS war viel zu toll, als dass es sich auf eineinhalb Zeilen abhandeln ließe. Da ich nämlich noch ein paar „Überstunden“ gut hatte, konnte ich zwei Brückentage nehmen („faire le pont“ heißt das auch hierzulande) und mich für ganze 5 Tage in Paris und Umgebung rumtreiben. Der eigentlich entscheidende Grund dafür allerdings heißt Vanessa, macht ihr FÖJ in Ermont in der banlieue parisienne (aber nicht in der brennenden) und tat sich aus freien Stücken den Spaß an, ganzen 4 Mit-FÖJ-lern plus temporär Hassan und Tarik, die mit mir hochgefahren waren und mal bei ihr schliefen und mal nicht, Obdach zu gewähren. Man sollte, um mitlachen zu können, die Maße von Vanessas (ohne Hausbesetzer äußerst wohnlichen) Appartements kennen: eigentlich ausgelegt für eine Person verfügt es neben herrlicher Dusche mit weniger fixem Abfluss, einer Toilette mit XXL-Simpsonsposter und Zusperrverbot („Ihr kommt sonst nicht mehr raus!“) und einer mit viel savoir-faire benutzter Küche über genau zwei zum Schlafen geeignete Zimmer, von denen eins im Laufe der Tage als Einzel-Krankenzimmer an die fiebrige Angela abgetreten werden musste. Im Wohnzimmer stapelte sich dafür der traurige Rest...oder habt ihr schon mal zu viert auf einem dreieinhalbbeinigen Schlafsofa gepennt? Kultige Sache das!

Am Samstag verbrachten wir dann einen ziemlich lustigen Tag in Vanessas Einsatzstelle, der „Maison des Jeunes et de la Culture Ermont“, das von der akronymophilen französischen Sprache natürlich für den täglichen Sprachgebrauch zum MJC passendgeschreddert wird. Dort züchtet sie, da der Garten, den sie betreut, sie nicht auslastet, Stubenpaprika auf dem Schreibtisch und kocht Mittagessen auf seeehr neiderweckenden Induktionsherdplatten. Wir halfen ihr, zwei neue Regale zusammenzubauen und im Gartenhäuschen anzubringen, und in einer kreativen Explosion aus Holzplatten und alten Werbetransparenten farbenprächtige Schilder für den Garten zu basteln. Hassan und Tariks handwerkliches Geschick war vor allem bei den Regalen ein wahrer Glücksfall. Ich und mein linker Daumen hingegen konnten feststellen, dass Sägen nicht immer Segen bringt...
Sonntag war dann zwar auch wieder ganz Paris gewidmet, aber trotzdem unter ganz anderen Vorzeichen als die vorigen Tage. Schon allein deshalb, weil wir um Welten früher aufstehen mussten, damit die Visargentler ihren Halbelf-Zug an der Gare de Lyon nicht verpassten. Für Vanessa und mich, der ich erst am Abend zurückfuhr, blieb so massig Zeit für einen richtig schön entspannten Parisbummel. Angefangen in Montmartre, wo wir uns von einer Horde sehr resoluter Hakuna-Matata-Afrikaner ein Freundschaftsarmband und einen freien Wunsch aufnötigen und jene auch gleich unfreiwillig selbst übers Wechselgeld bestimmen ließen, versuchten wir einfach, die unwahrscheinlichste Richtung einzuschlagen, um zu sehen, wo wir landen würden. Und tatsächlich, es gibt sie, diese Viertel in Paris, in denen einfach Leute leben, in denen kein Tourist rumläuft (OK, außer uns in diesem Fall), in denen man aber trotzdem erstaunliche Dinge wie die hunderte Meter lange Brücke über die immensen Gleisanlagen an der Gare du Nord oder ein Kulturzentrum mit einem viereckigen Karussell und Tai-Chi-Musik findet, über die man sich schon deshalb freut, weil man selbst sie gefunden hat und kein Reiseführer. Wie anders ein Parisbesuch sein kann, wenn man einfach beschließt, dass man Zeit hat. 
Nicht vergessen möchte ich schleichwerbenderweise auch, dass Vanessa einen Blog führt, der seit jetzt meine Links komplettiert. Da sie sich eine noch miesere Bloggingsoftware als ich ausgesucht hat und demzufolge nicht mal kleine Bilder, die sich schlecht in den Textfluss einbinden lassen, hochladen kann, sondern gar keine, lenkt bei ihr rein gar nichts vom Text ab. Und der genügt dem Urteil der Jury nach wahren literarischen Qualitäten. Wer kann und es noch nicht getan hat, sollte deshalb Vanessa unbedingt nach dem Passwort fragen - différent und echt lesenswert! 
Erster großer Programmpunkt dürfte die Portugalexkursion gewesen sein, zu der ich ausersehen wurde. Zur Erklärung nochmal: Quasi jeder Jugendaustausch der vielen, die Eurocircle organisiert, hat einen Vorbereitungsbesuch nötig, bei dem ein Vertreter jedes Landes an Ort und Stelle gegenwärtig ist, um sich die Unterkunft und das Terrain anzusehen, um alle nötige Absprachen zu machen (geht ja nicht über Internet...) und auch sonst eine schöne Zeit zu haben. Ein solcher war es, der mich Ende Oktober nach Lissabon fliegen ließ.
Während das Programm für solche visites préparatoires auf dem Papier meist sehr sehr dicht gedrängt zu sein scheint, zeigt die Realität ein anderes Gesicht. Der Trip nach Portugal wuchs sich aufgrund von weniger motivierten Gastgebern und der ausgesprochen attraktiven Stadt Lissabon zu einer Reise aus, bei der man - entgegen meiner anfänglichen Erwartungen - tatsächlich etwas vom Land zu sehen bekam. Und auch die Einführung in die portugiesische Esskultur war ein Hochgenuss: einmal bergeweise Fleisch und Fritten, dann ganze frittierte Fische. Und trotz sehr spannender Turbulenzen im Landeanflug auf Lissabon hat mich Marseille wohlbehalten wieder gesehen...nicht ohne das Foto eines Brunnens im Gepäck, mit dem fünf Interrailer beste Erinnerungen verbinden :D
Ein kurzer Abriss des Seminarprogramms: Wir brachten den Montag damit zu, uns gegenseitig unsere Einsatzstellen, Aufgaben und das bisher Erlebte zu schildern, bevor es im Verlauf der Woche daran ging, unsere Situation inklusive eventueller Startschwierigkeiten einzuschätzen, mit der Getreidefarm „Ferme de Chassagne“, der Käserei Mélanie Boursin und eines Vogelschutzpostens in Rochefort drei FÖJ-Einsatzstellen kennenzulernen und das Seminar am Donnerstag viel zu früh mit einem Ausflug ins nahegelegene Marais Poitevin und einem amtlichen Dîner in La Rochelle abzuschließen. Schön wars!
Ansonsten, was gibts Neues? Die Wohnungsgenossen haben wieder einmal gewechselt: Im Zimmer des mittlerweile schon lange nach Irland abgedampften Paolo hat sich die auf dem Foto befindliche Sára von gegenüber (und aus Ungarn^^) eingenistet und so zugleich jegliche Hoffnung meinerseits zunichte gemacht, dass ich je ein Zimmer mit Hinterhoflage und ohne Straßenlärm bekommen würde. Mit ihr, Senad, Amelie und mir haben wir eine für meinen Geschmack sehr angenehme Wohngemeinschaft beisammen (die beste, seit ich hier bin), die vor kurzem noch durch Agustín aus Madrid ergänzt wurde. Mit anderen Worten: Passt! Auch die elf (!) Deutschen, die Anfang Januar für eine Dauer von drei Monaten aus Berlin angekommen sind, sind durch die Bank supernett und sehr auskömmlich - und von Anfang an mit am weggehfreudigsten ;)
Hey...ein Blogeintrag...das ist doch erst...noch keine Woche...seltsam...aber es tragen sich in meinem Gastland ja auch epochale Ereignisse zu im Moment. Eine Streikaktion, die es in dieser Form seit 1995 nicht gegeben hat (und damals musste die Regierung gehen) und die es mittlerweile auch auf die Seite 1 des deutschen Blätterwalds geschafft hat. Sprich: die es durchaus wert ist, ein paar Zeilen darüber zu verlieren, und sei es nur, um klarzustellen, dass man eigentlich keine Angst haben muss um mich.
Sind wir uns also über den nicht-lebensbedrohlichen Charakter der Protestaktionen einig, so muss dennoch gesagt werden, dass sie am alltäglichen Leben alles andere als spurlos vorübergehen. Die Müllhaufen, ob schon verkokelt oder nicht, sind tatsächlich omnipräsent, auch auf olfaktorischer Ebene. I.a.W.: Es mieft in Marseille! (Nicht in unserem Arrondissement jedoch, in dem eine glückliche Fügung es wollte, dass ein Privatunternehmen den Dreck wegmacht, und die streiken nicht, hähä :D) Auch werden Bibliotheken und ÖPNV immer genau dann bestreikt, wenn man sie braucht. Am Rande notiert: Bestreiktes Radio ist viel besser als anderes, dadurch, dass es niemanden gibt, der labert, wird ausschließlich Musik gespielt :) Auf volkswirtschaftlicher Ebene scheinen sich die Streiks, zugegebenermaßen jenseits meiner Wahrnehmung, auch nicht übel auszuwirken, aber das kennt ihr ja aus der Zeitung... Ich war nur sehr erstaunt, kürzlich ca. 20 Riesenfrachter nutzlos in der Marseiller Bucht liegen zu sehen, dort, wo sonst höchstens die Fähre nach Tunesien rumschippert.
Ansonsten allerdings sind die Protestparaden allerdings recht beeindruckend und hübsch anzusehen. Eine Mischung aus Faschingsumzug und zum Stadion marschierenden Auswärtsfans trifft es wohl sehr gut. Gerade die seit neuestem ebenfalls streikenden lycées (Gymnasien) sind sehr leicht zu animieren. Vorneweg fährt - Tatsache - ein Pickup mit Liverockband auf der Ladefläche und hinterdrein schallt es aus Schülers Kehle, in Abwandlung des bekannten Aux armes von Olympique Marseille: „Nous sommes la jeunesse / Et nous allons gagner!“ Wir sind die Jugend und wir werden gewinnen. Fragt sich nur, was man gewinnen will, womit ich es geschickt geschafft habe, zur Frage über Sinn und Unsinn der ganzen Streikerei überzuleiten.
Da sich die Demonstrationen noch immer als Protest gegen die Anhebung des Rentenalters verstehen, wenn sie auch mittlerweile deutlich darüber hinausgehen und allgemeine Missfallenskundgebungen gegen Sarkozy & Friends darstellen, sollte zunächst klargestellt sein, dass die Rentenreform, so lächerlich die Anhebung auf 62 Jahre klingt (und das heißt im Übrigen nicht, dass jeder mit 62 oder im Moment mit 60 zu vollen Bezügen in Rente gehen kann!), durchaus ihre Schattenseiten hat im Bezug auf Gerechtigkeit zwischen Arbeitern und Führungskräften. Die einen, früh in den Beruf eingestiegen, müssen de facto 2 Jahre länger ran und verlieren so nicht zuletzt einiges an Geld, für die anderen ändert die ganze Reform nicht viel. Nur: Es brauchte ein Spezialdossier in Le Monde, um mir das halbwegs verständlich zu machen. Ansonsten findet keinerlei sachliche Auseinandersetzung mit der Reform (mehr?) statt, geschweige denn, dass Lösungsmodelle aufgezeigt werden, die über die platteste Parole hinausgehen. Auf der Straße liest man Weltfremdes wie: „Geld gibts genug. Wir fordern den vollen Rentensatz mit 60.“ Das Rezept ist einleuchtend: Besteuern wir doch einfach die Gewinne. Hallo 19. Jahrhundert, willkommen überkommenste Klassenkampfrhetorik.
Konferenz, die sich „nachhaltigen Konsum“ in all seinen Facetten auf die Fahnen geschrieben hatte, und die, organisiert von der Association Pistes Solidaires (Eurocircles Konkurrenten! =)), etwa 100 Jugendliche wie auch ältere Semester aus 10 verschiedenen Ländern Europas nach Marseille brachte. Ich hatte die Ehre, nur aus der heimatlichen Tür hinausstolpern zu müssen und daran zusammen mit Sabine, der neuen Zivildienstleistenden bei Eurocircle, teilnehmen zu können. Im Laufe eines „verlängerten Wochenendes“ von Freitag bis Montag hatten wir die Gelegenheit, uns kluge Vorschläge zum Thema zu überlegen, die am Montag dann den hiesigen Anzugträgern präsentiert werden durften. Auch wenns in den Diskussionen manchmal recht zäh und unübersichtlich wurde, konnte sich das Ergebnis letztlich sehen lassen. Am einprägsamsten waren die gemeinsam verbrachten Abende beim Schlemmen und Tanzen im sauteuren (aber meist fremdbezahlten, hähä) Café Bicok und die Witze von Griechen über Griechen, Franzosen, Italiener und Deutsche, bei denen die Griechen stets das bessere Ende für sich haben - meistens in zwischenmenschlicher Hinsicht :P Wer nach mehr Infos dürstet und gleichzeitig des Französischen mächtig ist, kann sich ja auf 
auch? Die Antwort lautet „ja“, von Zeit zu Zeit zumindest. =) Leider ist alles drumherum immer noch interessanter und berichtenswerter, sodass meine wahre Tätigkeit „from 9 to 5“ bei Eurocircle tatsächlich bisher etwas kurz gekommen ist. Was war also in der Arbeit so los? Der Löwenanteil der Zeit geht, außer mit Krimskrams und im Optimalfall 2x die Woche Französischunterricht, im Moment mit der Nachbereitung des Austausches drauf, den mein tuteur Séb(astien) im Sommer durchgeführt hat. Hier gilt es nicht nur, die Bürokratieattacke der europäischen Kommission erfolgreich zu parieren, sondern auch, einen Dokumentationsblog (noch einen!) zum Thema zu erstellen, für den ich schon fleißig Broschüren gewälzt und zu pädagogisch wertvollem Infomaterial zusammengefasst habe. Nebenbei gebe ich dem Buchhalter der Association noch einmal die Woche Deutschunterricht. Monsieur Aron hört gerne lustige deutsche Musik aus den 20ern - Stichwort „Meine Mama ist aus Yokohama“, bitte auf Youtube anhören und, wenn jemand den Text versteht, ihn niederschreiben und an Eurocircle schicken - und ist auch sonst unglaublich motiviert.
Apropos Motivation: Anfang dieses Monats fiel ein ganzer Montag lustigen Teambuildingaktivitäten zum Opfer. In 80er-Jahre-Schale geworfen, traf man sich zunächst zum Frühsport im Park, um gut aufgewärmt im Hochseilgarten zu klettern und anschließend die städtische Eishalle unsicher zu machen. Siehe Fotos... =) Highlight to come: Ende Oktober, genauer vom 29. bis zum 31., darf ich nach Portugal in die Nähe Lissabons fahren. Bei der dort stattfindenden visite préparatoire (wie sagt man eigentlich auf Deutsch?^^ Vorbereitungsbesuch für einen Jugendaustausch halt...) werde ich die Rolle des „Delegierten“ von Eurocircle einnehmen. Leider kann ich am Austausch selbst, der Mitte November statfindet, nicht teilnehmen, weil genau in diese Woche unser zweites FÖJ-Seminar fällt.